Brailleschrift: Warum Innovationen wie diese nach wie vor zur aktiven Teilhabe in der Gesellschaft beitragen
Heidi Scheer (Behindertenvertrauensperson der Lebenshilfen Soziale Dienste GmbH) im Gespräch, Interview von Silke Traunfellner
Was macht die Brailleschrift aus?
Die Brailleschrift, mit deren Hilfe blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen erstmals die Möglichkeit hatten, sich auch schriftlich auszudrücken, war die größte Revolution in der Entwicklung des Blindenwesens. Davor gab es oft nur vereinzelte blinde Menschen, die ein durchschnittliches oder höheres Bildungsniveau erreichten. Nun wurde dies plötzlich für alle möglich. Wer eine umfassende Bildung hat und seine Interessen selbst ausdrücken und niederschreiben kann, möchte auch über seine eigenen Belange selbst bestimmen und diese auch vertreten. Die Geburtsstunde der Blindenselbsthilfe-Bewegung hatte geschlagen. Die Brailleschrift hat also zu einem enormen Fortschritt in Bildung, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Chancengleichheit und Lebensqualität beigetragen.
Warum ist die Braille Schrift so wichtig?
Braille ist für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen nicht nur für den Zugang zum lebenslangen Lernen essentiell, sondern fördert als Kommunikationsmittel auch freie Meinungsäußerung sowie soziale Teilhabe. Beschriftungen in Braille helfen Barrieren abzubauen und fungieren als Orientierungshilfen, Anleitungen oder unerlässliche Auskunftsquellen. Da, wo Braille fehlt (und auch nicht mit Sprachausgabe oder anderen Signalen kommuniziert wird) werden blinde und sehbehinderte Menschen von gesellschaftlicher Partizipation ausgeschlossen.
Wo und wie findet diese Anwendung?
Seit der Erfindung der Blindenschrift sind blinde Menschen in der Lage, in einer Welt des Sehens selbständig zu lesen und zu schreiben. Braille ist eine taktile (also fühlbare) Punktschrift. Mit der Brailleschrift können alle Buchstaben, Umlaute, Zeichen und Zahlen unserer Schrift dargestellt werden (Vollschrift). Die sechs Punkte sind universal und übersetzen alle Sprachen der Welt. So wird auch etwa in China und Russland Braille angewendet. Heute sind die sechs tastbaren Punkte mehr und besser verfügbar als je zuvor und das nicht nur in gedruckten Braille-Büchern, sondern auch auf Fahrstuhlknöpfen, Handlaufbeschriftung auf Treppengeländern, der E-Card, Medikamentenverpackungen oder Speisekarten. Neben der Vollschrift gibt es auch die Kurzschrift. Dabei sind den Punktkombinationen Silben oder Wörter zugeordnet. Für chemische und mathematische Zeichen, Musiknoten oder Strickmuster werden bestehende Zeichenkombinationen abgeändert zugeordnet. Steno für Blinde und Euorobraille sind eine weitere Möglichkeit unabhängig zu kommunizieren. Am Computer wird meist eine Braillezeile verwendet. Das flexible Gerät übersetzt mit einer speziellen Software den Text auf dem Bildschirm in Punktschrift. So springen dem jeweiligen Punkteraster entsprechend auf der Braillezeile kleine Stifte noch oben. Dies ermöglicht seheingeschränkten Menschen Texte zu lesen und im Internet zu surfen. Um alle Sonderzeichen darstellen zu können, wurde Computerbraille um 2 Punkte erweitert. Parallel dazu kann man sich mit einer speziellen Software, dem Screenreader den Text auch vorlesen lassen. Die Texteingabe erfolgt heute wie bei Sehenden meist mit einer Standardtastatur. Auf LEGO-Steinen soll das Erlernen von Braille spielerisch erlernt und gefördert werden.
Was bedeutet Braille für dich?
Für mich persönlich war das Erlernen der Brailleschrift spannend und herausfordernd. Spannend, weil es für mich interessant war, die Schriftkombinationen und Kürzungen – ähnlich der Stenografie für Sehende – zu erlernen. Herausfordernd war es, das Geschriebene zu lesen bzw. zu ertasten. Um dieses Fingerspitzengefühl zu erlangen und zu erhalten, brauchte es eine Menge an Geduld und Ausdauer und nach wie vor regelmäßiges Training.
Was wären wir heute ohne Braille?
Das Louis Braille - als selbst blinde Personen - im Jahre 1825 sechs Punkte ausreichten, um die tastbare Blindenschrift zu entwickeln, ist genial. Heute ist die Brailleschrift weltweit verbreitet und auch im Computerzeitalter keineswegs unmodern. Sie stellt nach wie vor eine wichtige Basis für den Zugang von Informationen und Wissensvermittlung dar. Somit ist es äußerst wichtig sicherzustellen, dass Braille neben modernen Techniken bestehen bleibt.
Die Fertigkeit, selbst zu lesen und zu schreiben, muss daher auch stets das Ziel der Bildung für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen sein. Obwohl die UN-Behindertenrechtskonvention das Recht auf Brailleschrift explizit hervorhebt, sind viele Broschüren, Publikationen und wichtige Informationen für die Zielgruppe nicht barrierefrei zugänglich. Vor allem muss aber auch ein Schriftkompetenzverlust blinder und hochgradig sehbehinderter Menschen verhindert werden. Gerade weil die Brailleschrift die ureigene Grundlage der Blindenkultur ist, setzen sich Selbsthilfe- oder Selbstvertretungsorganisationen weltweit so sehr für sie ein.